Gespräch mit Frau Gudrun Rosemarie Guizzardi
Mittwoch, 7. April 2004 in Garmisch-Partenkirchen


Die Fragen stellten Alois Schwarzmüller und Gebhard Zinßer.
(Leicht gekürzte und überarbeitete Fassung.)

Frau Guizzardi beginnt das Gespräch und erzählt, wie die Schulklasse von Michael Ende in die Pension Roseneck geschickt wurde.

"Und da haben wir, also meine Familie, meine Tante Mühlhäuser und mein Onkel Philipp Heene haben oben gewohnt und unten war die Schule, also im Parterre und ersten Stock waren die ganzen Schlafzimmer der Schüler und im Parterre war der Speisesaal und im Untergeschoss waren die Küchen.
Frau Gudrun & Herr Ende

Michael Ende und Frau Rosemarie Guizzardi, aufgenommen im Kurpark Garmisch anlässlich der Ehrung des Autors durch die Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen im Jahre 1990.

Kannten Sie den Michael vorher schon?

Nein, obwohl er im Bunten Haus, glaube ich, geboren ist, habe ich ihn erst kennen gelernt ... und zwar war das so: Als die Schüler ins Roseneck kamen, sagte meine Familie, meine Tante Hanne: "Ach das ist ja der Sohn von der Frau Ende." Und diese Frau Ende, die ja viel, viel allein war, weil der Vater nie da war. Ich glaube auch, ich habe das Gefühl, dass seine Malerei in der Nazizeit nicht beliebt war und dass der Mann abhauen musste. Und so war die Frau immer sehr traurig, sie hatte einen sehr traurigen Blick, diese Frau, hat aber nie von ihrem Mann gesprochen. Und die Frau war natürlich oft auch in finanziellen Schwierigkeiten. Und da weiß ich von meiner Familie, das hab ich verschiedentlich gehört, dass mein Onkel Philipp, der ein großer Freund aller Künstler war, der liebte ja Tänzer, Sänger, Poeten usw. die liebte er alle sehr und verehrte er. Und dass er dieser Frau Ende öfter mal finanziell unter die Arme gegriffen hat, damit die Frau durchkam durch die Schwierigkeiten. Das war eine sehr schwere Zeit allein ohne Mann mit einem Sohn, der in die Oberschule ging und der dann studieren musste. Als die von dem Michael Ende hörten, haben sie ihn öfters rauf gerufen zu uns in die Wohnung und hier oben in der Wohnung hab ich ihn dann kennen gelernt. Und er war nun zwei Jahre mir voraus in der Schule, ich hatte ein Jahr verloren durch Familienverhältnisse, meine Mutter hat noch einmal geheiratet, deshalb lebte ich in Dresden und war auch nach Garmisch gekommen in der Zeit der Bombardierung. Dresden war noch völlig in Ordnung. Es ist ja in einer Nacht vollständig zerstört worden von den Amerikanern damals. Und dann haben wir uns zusammen unterhalten. Ich hab gemerkt, das war ein sehr intelligenter Junge und der war auch sehr schlau in der Schule, sehr intelligent, aber sehr reserviert. Sehr reserviert, er hat mit kaum jemand ... über sich selbst hat er überhaupt nicht gesprochen. Ich hab aber auch gemerkt, dass er ein sehr guter Zeichner ist ... ich habe Frau Ende später oft in München besucht und er hat mir immer sehr stolz die Bilder von seinem Vater gezeigt ... die ganze Wohnung ... die haben da in der Luitpoldstraße gewohnt, in einem hohen Patrizierhaus. Ich erinnere mich noch, dass die Wohnung sehr dunkel war, denn früher hatte man dann auch die dunklen Tapeten und so weiter, aber Tapeten hat man bei ihnen gar nicht sehen können, weil es war ja alles behängt von Bildern. Die Mutter hat dann in der Leopoldstraße in München gewohnt.


War die Mutter von Michael Ende in der Zeit des Krieges noch häufig in Garmisch?

Nein, die Mutter war immer in München.

Als der Sohn im Rahmen der Kinderlandverschickung hier war, war sie auch nie in Garmisch?

Nein, da war sie nicht hier. Ich hab die Mutter nicht in Garmisch kennen gelernt, sondern in München. Als ich ihn dann manchmal besuchte, ich bin dann manchmal in die Luitpoldstraße rauf und oft war er nicht da, da war ich dann den ganzen Nachmittag mit Michaels Mutter zusammen und dann haben wir Kaffee getrunken oder Tee getrunken und dann hat sie mir ihre Arbeiten, sie war ja selbst sehr künstlerisch begabt, auch sie, wie der Vater, wie der Sohn, und hat mir dann ihre ganzen kunstgewerblichen Arbeiten gezeigt, da war alles sehr schön und sehr nett und sehr interessant für mich, denn ich hab auch ein bisschen künstlerisches Blut. Und da war so gerade am richtigen Platz, da hab ich mich in meinem Element gefühlt.


Nun haben Sie ja den Michael in der Weise kennen gelernt, dass er Ihr Nachhilfelehrer in Latein war.

Also das war so. Als ich von Dresden kam, musste ich ja in die Schule gehen. Ich konnte ja nicht ohne Schule sein und da war ich im Kainzenbad im Melcher, da war ja die Oberschule. Da hat ein gewisser Melcher, da wo jetzt das Krankenhaus ist ...


War das eine Privatschule?

Ja, Privatschule und da war ich dort, aber in Latein war ich sehr schlecht, in Mathematik ebenfalls, denn die Mathematiker sind meistens in Latein gut, wie umgekehrt, also das war nicht mein Fall und ich brauchte Hilfe und zwar brauchte ich Hausaufgabenhilfe. Und da haben wir das so ausgemacht, da er ein sehr guter Lateiner war. Ich kam heim mit meinen Hausaufgaben, hab die Hausaufgaben abgeschrieben auf einen Zettel und hab sie unter den Teppich der dritten Stufe, die dann hinaufging, unter den Teppich geschoben und da hat er die rausgezogen, hat mir die Hausaufgaben gemacht, sie wieder drunter geschoben und dann am Abend hab ich sie mir abgeholt und schön wieder in mein Heft rein geschrieben. Also das war ein kleiner Betrug, aber sonst kam er auch oft rauf und hat dann Vokabeln abgehört, aber ein richtiger Lateinlehrer war er nicht, das war nicht der Grund.


Was hat Sie an ihm fasziniert?

Er muss damals so 15 gewesen sein. Ich war so 14 ungefähr. Was mir gefallen hat, war eben, dass man sich fantastisch mit ihm unterhalten konnte. Wir sind oft spazieren gegangen am Kramerplateauweg auch oberhalb vom Weg. Wo gehen heute junge Leute hin? Auf den Kramerplateauweg. Und da haben wir oft zusammen gesessen, haben uns unterhalten, bei uns oben in der Wohnung, bei meiner Tante Hanne und Onkel Philipp. Ich hatte ja große Schwierigkeiten damals wegzugehen. Damals war man ja als junges Mädchen sehr betreut. Da aber meine Familie die Ende-Familie kannte, war das der einzige, mit dem ich überhaupt raus durfte. "Ja, das ist ein anständiger Junge, mit dem kannst du ruhig gehen." Ja, und er hat auch sehr schön gezeichnet, er hat mir damals auch eine wunderschöne Zeichnung in mein Poesiealbum reingemacht, aber das find ich nicht mehr, das ist weg. Viele Dinge, die weg sind. Und dann musste ich wieder nach Dresden und dann hat er mir noch paar mal geschrieben und dann hat er mir auch ein Foto geschickt von sich und seiner Mutter. Und dann "aus den Augen aus dem Sinn", man hat sich dann langsam verloren.


Wann war das, wann sind sie zurück nach Dresden?

Ja, das war so 44, war das. Dann sind wir wieder hergekommen um dann hier zu bleiben und gleich danach kam der große Bombenangriff in Dresden, aber wir hatten das große Glück, wir hatten nicht in der Stadtmitte gewohnt, sondern außerhalb. Meine Mutter, die hatten damals eine Wohnung außerhalb von Dresden gefunden, die wollte nämlich später in die Stadt hinein, um auch in die Oper, ins Theater zu gehen usw. Zum Glück hat das nicht geklappt, sonst hätten sie alles verloren. Ja und dann, so sind die Jahre vergangen ...


Hat der Michael auch gedichtet? Geschrieben?

Er hat ... nein, das hat er nicht ...


Sein Biograph schreibt, er sei im Kramerhof mit Freunden hin und wieder zum Kramerplateauweg und habe zum Beispiel Schillers Räuber inszeniert. Haben Sie das einmal miterlebt?

Davon weiß ich nichts. Als er noch im Kramerhof war, hab ich ihn ja noch nicht gekannt. Und die Geschichte mit den Räubern, das hab ich auch erst durch die Zeitung erfahren.


Wann waren die Münchner Begegnungen?

Also die Münchner Begegnungen, Moment mal. 45 kamen die Amerikaner, 46, also 47, im Jahre 47.


Da war noch Kontakt da.

Ja, ja, da war der Kontakt noch da, da hat er sich sehr gefreut und dann ist er auch mal zu mir. Ich war damals schon verheiratet. Und da kam er manchmal auch mich besuchen bei mir zu Hause. Ich erinnere mich, dass er damals meine kleinere Tochter, die war damals 2 Jahre alt, Sabine, die konnte damals noch nicht sprechen und die rannte da immer im Wohnzimmer rum und sprach selbst, sprach mit ihren Puppen und mit allem, was sie da so in der Hand hatte, ihrem Spielzeug, legte es hin und deckte ihre Puppen zu und da war er immer ganz abgelenkt und dann hat er gar nicht zugehört, wenn ich gesprochen habe. Und dann hat er immer gesagt "Ach Gott, was hat das Kind für eine süße Sprache." Also, diese Kindersprache ...


Wann war das?

Das war ungefähr 1957.


Dann war der Kontakt sehr, sehr lange.

Ja, doch, wir hatten guten Kontakt und dann hab ich dann später noch mal ... das war im Jahr, das muss gewesen sein, im Jahr 77, 76, 77, da hatte ich meine Tochter in Rom im Krankenhaus und da hab ich mal angerufen und zwar in Censiano, wo er gewohnt hat und ich hab damals im Krankenhaus gewohnt, denn ich musste damals meiner Tochter assistieren, da hat er sich sehr gefreut über den Anruf, hat sich aber nie sehen lassen, weil er zu der Zeit schon schwer beschäftigt war mit irgendwelchen Konferenzen mit seinen Büchern, mit Vorträgen, und dann fuhr er mal wieder nach Deutschland und mal wieder nach Berlin, ich weiß nicht wohin ...


Das ist die "Momo-Zeit" ...

Ja, da hat er sehr, sehr zu tun gehabt und das war eigentlich das letzte Mal. Ach ne, das war nicht das letzte Mal, sondern das allerletzte Mal hab ich ihn gesehen als die seinen Geburtstag gefeiert haben, nicht den Geburtstag, nein, als er das Bäumchen gepflanzt hatte, ja das war zu seinem Sechzigsten, da hat er dieses Bäumchen gepflanzt, wie hieß das Bäumchen?


Kaiserlinde.

Es hieß Kaiserlinde, aber damals hatte es einen andren Namen, das fantastische Bäumchen oder so einen ähnlichen Namen.


Haben Sie seinen Abschied aus Garmisch miterlebt? Denn das muss ja einigermaßen dramatisch gewesen sein, weil er hier noch den Einberufungsbescheid zu Hitlers Wehrmacht bekommen hat. Der wurde nämlich hierher zugestellt. Den hat er wohl ungeöffnet mitgenommen und er ist mit diesem Einberufungsbescheid einfach nach München gegangen und seine Mutter hat ihn dann zerrissen und gesagt, ich versteck dich, so lang bis alles vorbei ist. Es hätte ihn in letzter Sekunde dieser Wahnsinn noch treffen können.

Hat das geklappt, ohne Schwierigkeiten? Hat sie ihn verstecken können? Das weiß ich nicht. Das ist ganz neu für mich."


 Transkript: Gebhard Zinßer